F. Rogger: Die Ursprünge der Schweizer Frauenbewegung und ihre Pionierin Julie Ryff (1831–1908)

Cover
Titel
«Wir werden auf das Stimmrecht hinarbeiten!». Die Ursprünge der Schweizer Frauenbewegung und ihre Pionierin Julie Ryff (1831–1908)


Autor(en)
Rogger, Franziska
Erschienen
Basel 2021: NZZ Libro
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
CHF 39.00
von
Werner Werner Seitz

Im Hinblick auf das Jubiläum – oder besser: das Gedenken an – «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz» sind zahlreiche Aufsätze und Bücher zum Thema Frauen in der Politik und in der Gesellschaft erschienen. Zu Letzteren gehört auch die Publikation der Berner Historikerin Franziska Rogger. Sie behandelt das Leben von Julie Ryff, einer Aktivistin des Frauen-Comités Bern, und beleuchtet dabei auch die Ursprünge der Schweizer Frauenbewegung Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts.

Das Buch besteht aus drei Teilen, wobei der erste am umfangreichsten ist. Er beginnt mit der Schilderung der Jugend von Julie Ryff in Basel und in Tavannes und ihrer Zeit als Ehefrau und Mutter von dreizehn Kindern. Als ihr Mann bei einem Unfall starb, arbeitete die damals 48-Jährige mit noch sieben unmündigen Kindern als Steuereintreiberin und betrieb einen kleinen Handel. 1885 zog sie nach Genf, wo sie junge Frauen in die Buchhaltung einführte und erstmals mit der Frauenbewegung in Kontakt kam.

Als die Organisatorinnen der Weltausstellung in Chicago von 1893 und des gleichzeitig durchgeführten internationalen Frauenkongresses unter anderem auch die Schweiz um Informationen über den «Kulturzustand» der Schweizerinnen anfragten, stellte sich Julie Ryff für eine Durchführung der Erhebung über die Frauenaktivitäten zur Verfügung. Diese nationale Umfrage sollte ihr «Paradestück» werden (S. 235). Die Erhebung zeigte eine beeindruckende Vielfalt der Aktivitäten der Frauen: Es gab rund 5000 Organisationen mit über 100 000 Mitgliedern, und diese waren in den Bereichen Prävention, Soziales, Armen- und Altenpflege, Schule, Bildung und Gesundheit tätig. Die Ergebnisse konnte Julie Ryff allerdings erst 1896 an der Schweizerischen Landesausstellung beziehungsweise am ersten Schweizerischen Kongress für die Interessen der Frau vorstellen.

Im Zug dieses Frauenkongresses schlossen sich im Mai 1900 verschiedene Vereine, vor allem die sogenannten fortschrittlichen Vereine von Genf, Bern, Zürich und Lausanne, zum Bund Schweizerischer Frauenvereine zusammen, der heutigen Alliance f. Erste Präsidentin wurde Helene von Mülinen, die schon das Frauen-Comité Bern präsidierte. Julie Ryff wurde nicht in den Vorstand gewählt. Sie agierte weiterhin als engagierte Sekretärin im Frauen-Comité Bern.

Im zweiten Teil des Buchs von Franziska Rogger stehen die Auseinandersetzungen um das Zivilgesetzbuch (ZGB) im Zentrum, das für die gesellschaftliche Gleichstellung der Frauen grosse Bedeutung hatte. Diese Ausführungen sind klar strukturiert. Anders als im ersten Teil wird auf abschweifende Exkurse und allzu detaillierte Zusatzinformationen verzichtet.

Julie Ryff und das Frauen-Comité Bern organisierten Veranstaltungen zum ZGB und suchten auf verschiedene Arten mit Eugen Huber, der als Rechtsprofessor an der Universität Bern im Auftrag des Eidgenössischen Justizdepartements den Vorschlag für das ZGB ausarbeitete, ins Gespräch zu kommen. Dieser hielt verschiedene Begegnungen in seinem Tagebuch fest und kommentierte sie. Julie Ryff machte auch Eingaben an das Justizdepartement und gab gar Zeitungsinserate auf. Das vom eidgenössischen Parlament verabschiedete ZGB hielt jedoch an der Stellung des Mannes als Oberhaupt der Familie fest, und beim Güterrecht blieb die Güterverbindung als der ordentliche Güterstand bestehen.

Im dritten Teil ihres Buchs erzählt Franziska Rogger von Julie Ryffs erfolglosen Bemühungen, ein Denkmal für die «Stauffacherin» in Schwyz oder Steinen zu errichten. Keinen Erfolg hatte sie auch mit ihrer – vorausschauenden – Forderung, ein «schweizerisches Frauensekretariat» einzurichten. In den letzten Monaten ihres Lebens ordnete Julie Ryff das umfangreiche Aktenmaterial des Frauen-Comités Bern
und übergab es dem Bundesarchiv. Hundert Jahre später tauchten jedoch die Unterlagen der Erhebung über die Frauenaktivitäten in Freiburg auf. 1995 kamen sie ins Staatsarchiv Bern, von wo sie Franziska Rogger dem Gosteli-Archiv vermittelte.

Die Geschichte der Frauen und Frauenorganisationen im 19. Jahrhundert wurde in den vergangenen Jahrzehnten mehrfach aufgearbeitet und dargestellt. Seit 1988 liegt das Standardwerk Ausgeklammert – Eingeklammert der Berner Historikerin Beatrix Mesmer vor.1 Die Publikation von Franziska Rogger fügt sich in diesen Wissensstand ein, wobei sie ihren Fokus zeitlich wie thematisch auf ihre Hauptperson Julie Ryff einschränkt und vertieft. Weiterführende Informationen zur schweizerischen und internationalen Frauenbewegung werden als Exkurse eingefügt.

Neu und besonders verdienstvoll ist es, dass Franziska Rogger eine grosse Menge von Akten und Dokumenten durchgearbeitet hat und die Geschichte Julie Ryffs und des Frauen-Comités Bern zum Teil bis in feinste Verästelungen rekonstruiert. Ein Blick in die umfangreichen detaillierten Anmerkungen im Anhang zeigt, was für eine beeindruckende Arbeit die Autorin geleistet hat. Sie hält selbst fest: «Die Lebensgeschichte von Julie Ryff musste aus vielen Details zusammengeklaubt werden.» (S. 237) Dass Julie Ryff «bis heute völlig ignoriert» (S. 13) worden sei, ist jedoch eine unnötige Übertreibung. Schon von Susanna Woodtli und von Beatrix Mesmer werden Julie Ryff und ihre Erhebung erwähnt,2 seit 2012 figuriert sie auch im Historischen Lexikon der Schweiz. Wie schon im Buch über Marthe Gosteli 3 bezieht Franziska Rogger Stellung und zeigt deutlich, wem ihre Sympathien gelten. Das hat durchaus etwas Erfrischendes. Dass sie aber selbst bei diesem zeitlich doch weit zurückliegenden Thema noch spitze Bemerkungen an die Adresse der neuen Frauenbewegung richtet, befremdet etwas.

Eine Frage des Marketings vor dem Hintergrund des zurzeit aktuellen Themas des Frauenstimmrechts dürfte der Titel des Buchs gewesen sein («Wir werden auf das Stimmrecht hinarbeiten!»). Dieser suggeriert, dass das zentrale Thema des Buchs Julie Ryff und das Frauenstimmrecht wäre. Dies ist aber nicht der Fall; der Begriff «Frauenstimmrecht» taucht erst gegen den Schluss des Buchs auf, und Julie Ryff beschäftigte sich nicht mit dem Frauenstimmrecht. Das Zitat stammt denn auch nicht von ihr, sondern von der Bernerin Helene von Mülinen (S. 211).

Die Autorin legt ein Buch vor, das in einer lebendigen, ausdrucksstarken und unterhaltsamen Sprache geschrieben ist. Es gibt einen guten Einblick in die Rahmenbedingungen und die Aktivitäten der Frauenbewegung um die Jahrhundertwende, und es porträtiert Julie Ryff auf eine sehr einfühlsame Art.

Anmekrung:
1 Mesmer, Beatrix: Ausgeklammert – Eingeklammert. Frauen und Frauenorganisationen in der Schweiz des 19. Jahrhunderts. Basel, Frankfurt am Main 1988.
2 Woodtli, Susanna: Gleichberechtigung. Der Kampf um die politischen Rechte der Frau in der Schweiz. 1. Auflage 1975, 2., ergaÅNnzte Auflage, Frauenfeld 1983; Mesmer (wie Anm. 1).
3 Rogger, Franziska: «Gebt den Schweizerinnen ihre Geschichte!». Marthe Gosteli, ihr Archiv und der übersehene Kampf ums Frauenstimmrecht. Zürich 2015.

Zitierweise:
Seitz, Werner: Rezension zu: Rogger, Franziska: «Wir werden auf das Stimmrecht hinarbeiten!». Die Ursprünge der Schweizer Frauenbewegung und ihre Pionierin Julie Ryff (1831 – 1908). Basel. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 2, 2021, S. 78-80.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 2, 2021, S. 78-80.

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